Migration: Tipps, wie Offenheit, Unterstützung und bewusste Entscheidungen die Chance geben, Trauma in Erfahrung und Verlust in neue Stärke zu verwandeln

Ein neues Leben – wie die Pubertät


Ein Umzug in ein anderes Land gehört zu den fünf traumatischsten Ereignissen für die menschliche Psyche – neben dem Tod nahestehender Menschen oder Krieg. Der Organismus wird quasi „auf null gestellt“ und ist gezwungen, erneut erwachsen zu werden.
„Migranten fühlen sich oft so, als würden sie in die Pubertät zurückfallen“, erklärt die Psychotherapeutin Natalija Tereschtschenko, deren Arbeit vom österreichischen Gesundheitsministerium unterstützt wird. „Man muss das Leben von Grund auf neu aufbauen, selbst wenn man bereits eine gefestigte erwachsene Persönlichkeit mit viel Erfahrung ist.“
Diese Kluft zwischen „dem, was ich schon kann“ und „dem, was die neue Gesellschaft verlangt“ erzeugt häufig das Gefühl, zu früh zu altern: Man glaubt, zu spät zu sein, nicht „zu passen“. Tatsächlich ist es lediglich eine natürliche Reaktion der Psyche auf neue Bedingungen.

Der Mythos von der leichten Anpassung der Kinder


Oft wird angenommen, dass Kinder Migration leichter verkraften. Das ist ein Mythos.
„Kinder tragen eine doppelte Last: Sie wachsen gleichzeitig in ihrer eigenen Kultur auf und versuchen, sich in eine neue zu integrieren“, sagt die Psychotherapeutin. „Besonders schwierig ist es im Kontext von Mehrsprachigkeit, wenn keine Sprache ein stabiles Fundament bildet.“
Hinzu kommt das Phänomen der „Parentifizierung“ – wenn Kinder gezwungen sind, erwachsene Rollen zu übernehmen: als Übersetzer, Organisatoren, Unterstützer der Eltern. Dies kann langfristige Folgen für ihre Entwicklung haben.

Warum Klarheit wichtig ist


Die größte Herausforderung für Kinder ist die Ungewissheit. Eltern, die zwischen „bleiben“ oder „zurückkehren“ schwanken, übertragen unbewusst diesen Zustand der Schwebe auf ihre Kinder.
„Es spielt keine Rolle, welche Entscheidung die Erwachsenen treffen – wichtig ist die Klarheit“, betont Natalija Tereschtschenko. „Dem Kind muss die Realität in einfacher Sprache erklärt werden: Was passiert, was zu erwarten ist. Das gibt Halt und Vertrauen.“

Wie man das Trauma der Generationen überwindet


Die Theorie der „fünf Generationen“, wonach historische Traumata erst nach dem Wechsel mehrerer Generationen verschwinden, ist auch für die Ukraine aktuell. Hungersnot, Repressionen, Migrationen – all das wird von Generation zu Generation weitergegeben. Und nun ist der Krieg hinzugekommen.
„Der Ausweg“, ist Natalija überzeugt, „liegt im Darüberreden. Verheimlichen Sie die Wahrheit nicht vor den Kindern, nennen Sie die Dinge beim Namen, bewahren Sie das Familiengedächtnis. Gemeinsame Gespräche mit Angehörigen helfen, Erfahrungen nicht in Isolation, sondern zusammen zu verarbeiten.“

Praktische Tipps für Migranten

  • Akzeptieren Sie die Ungewissheit. Das Unbekannte ist an sich schon eine Herausforderung, aber es ist etwas Natürliches.
  • Erlauben Sie sich, Dinge auszuprobieren. Wenn Sie unsicher sind, ob Sie zurückkehren sollen, „probieren“ Sie beide Varianten: Bleiben Sie vorerst oder besuchen Sie die Ukraine.
  • Seien Sie für Ihre Kinder da. Selbst in schwierigen Umständen ist der Dialog wichtig: „Wie fühlst du dich?“, „Was denkst du?“
  • Werten Sie Ihre eigene Erfahrung nicht ab. Sie verfügen bereits über Wissen und Fähigkeiten – in einem neuen Land verschwinden diese nicht, auch wenn Sie mit einfachen Dingen neu beginnen müssen.
  • Bauen Sie Gemeinschaft auf. Sprechen Sie über Erlebtes, suchen Sie Gleichgesinnte, schaffen Sie ein Unterstützungsnetzwerk.

Migration ist nicht nur eine neue Chance, sondern auch eine der schwersten Belastungen für die Psyche. Sowohl Erwachsene als auch Kinder durchlaufen Prozesse, die ihr Leben für immer verändern können. Doch Offenheit, Unterstützung und bewusste Entscheidungen geben die Möglichkeit, Trauma in Erfahrung und Verlust in neue Stärke zu verwandeln.

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