Die Türen mit eigenen Händen öffnen: Migrant*innen als Gestalter ihres eigenen Lebens

Text von Svitlana Prokopchuk

Wir trafen uns mit Aisa Martinez im Generationenhaus in Bern. Eine ruhige Stimme, durchdachte Intonation – und gleichzeitig viel Energie in jedem Wort. Ihr Weg ist eine Art Mosaik: von der feministischen Friedensorganisation Frieda über den Stadtrundgang„Orte der Teilhabe“, von musealen Video-Installationen im Schloss Burgdorf bis hin zu einem Migrationsprojekt in Thun. Doch all diese Initiativen verbindet eines: die Stimmen von Migrantinnen und der beharrliche Wunsch, dass man sie hört.

„Stell dir vor – wir sind gerade erst in der Schweiz angekommen und laden zwei Politikerinnen ein.“ Die ersten Projekte und der erste Mut

— Wenn ich nach deinem Erfahrungshintergrund frage, sagst du: „Oh Gott, das ist so viel!“ Wo hat alles begonnen?

Aisa:
Mein erster eigener Projektstart war 2019. Ich war damals erst seit einem Jahr in der Schweiz und nahm an einem Mentoringprogramm des damaligen Frieda teil. Eine Bedingung war, ein eigenes Event zu organisieren. Wir wollten über Migrantinnen in der Schweizer Politik sprechen. Und – stell dir das vor – wir luden Emine Sarıaslan, ehemalige Berner Stadträtin, und Sibel Arslan, Nationalrätin aus Basel, ein.
 Da dachte ich: „Wow, wir können das wirklich!“ Wir waren alle neu im Land… und plötzlich standen zwei Politikerinnen vor uns und sprachen direkt mit uns.

Stadtrundgang „Orte der Teilhabe“: Bern aus der Sicht von Migrantinnen

— Du führst auch Stadtrundgänge in Bern durch und zeigst bekannte Orte aus einer ungewohnten Perspektive. Warum ist das so wichtig für dich?


 Aisa: Spaziergang ist nicht einfach eine Route mit gewöhnlichen Stopps beim Bahnhof oder beim Rathaus. Wir zeigen, wo und wie Teilhabe für Migrantinnen in der Stadt möglich ist: in der Politik, der Kultur, im Bildungsbereich. Das Thema ist aber herausfordernd. Die Gruppen sind sehr verschieden – manche offen, manche eher zurückhaltend. Wir sprechen nur aus unserer eigenen Erfahrung als Migrantinnen und nicht über Gesetze oder allgemeingültige Regeln. Unser Blick ist nicht der einer ganzen Community. Das Wertvollste ist das Interesse. Nach den Rundgängen bleiben viele noch, stellen Fragen. So entsteht ein Raum für Dialog.

„Stimmen, die Burgdorf gehören“: Museumsarbeit und ein Projekt, auf das man stolz sein kann

— Du hast ein grosses Museumsprojekt im Schloss Burgdorf abgeschlossen. Dort hört man wirklich migrantische Stimmen! Wie bewertest du diese Erfahrung?

Aisa:
Das Projekt hiess “Zum Wesen der Dinge”. Wir ergänzten die Dauerausstellung mit Stimmen von Menschen mit und ohne Migrationserfahrung, die in Burgdorf leben. Sie recherchierten, sprachen vor der Kamera über Exponate oder historische Epochen – und das in ihrer Muttersprache sowie in der deutschen Sprache. Für mich ist das ein riesiger persönlicher Erfolg. Vor der Schweiz arbeitete ich über zehn Jahre lang als Kuratorin für grosse Museumsprojekte in Grossbritannien und den arabischen Ländern – aber ich habe damals noch nie ein Projekt vollständig abgeschlossen. Immer standen Umzüge oder Jobwechsel im Weg. Und hier habe ich es geschafft. Gemeinsam mit der Community.

Integration, Multikulturalität und ein kritischer Blick von innen

— Wie verstehst du Multikulturalität in der Schweiz?


Aisa: Die Schweiz ist in ihrem Kern multikulturell – autonome Kantone, vier Landessprachen, geografische Lage. Und dann sind da die Menschen, die hierher migriert sind und die moderne Schweiz mit aufgebaut haben: aus dem Balkan, Portugal, Spanien, Italien. Das gehört genauso zu diesem Land. Ich verstehe das gut: Ich bin in den USA aufgewachsen, und meine Eltern waren Migranten. Natürlich sind die Geschichten nicht vergleichbar, aber ich weiss, wie schwer Migrant*innen es haben können.

— Gibt es universelle Methoden für interkulturellen Dialog?
 

Aisa:
Empathie, Offenheit, Zuhören – und gleichzeitig Grenzen setzen, wenn es um Rassismus oder Diskriminierung geht. Ich bin selbst Migrantin und weiss, wie es ist, neu zu sein, ohne soziales Umfeld und ohne Systemkenntnis.

Sprachintegration: Unterstützung reicht, aber sie reicht nicht aus

— Kommunikation funktioniert nur über die Sprache des Landes – besonders, wenn man im Arbeitsmarkt ankommen möchte. Oder?

 Aisa:
Für Frauen ist es besonders schwierig. Viele kommen über Familiennachzug und möchten arbeiten. Aber das Sprachniveau, das man dafür braucht, ist viel höher als das für die Aufenthaltsbewilligung. A2/B1 reicht für die Bewilligung, aber nicht für den Arbeitsmarkt. Das Problem: Nach B1 wird es fast unmöglich, subventionierte Kurse zu finden. Besonders für Frauen. Besonders für Mütter kleiner Kinder! Ich bin dankbar für die vorhandenen Programme, aber ich sage immer: Erwachsene brauchen nicht weniger Unterstützung als Kinder.

„Man braucht nur eine Person, damit sich alles bewegt“ — Netzwerke, Unterstützung und „Vitamin B“

— Wie kann man Migrant*innen an gesellschaftlichen Prozessen beteiligen?


Aisa:
Man braucht Menschen. Dieses berühmte „Vitamin B“. Nicht im Sinne von Privilegien, sondern im Sinne von Beziehungen. Wenn du nur eine Person findest, die deine Werte teilt – ist das ein Erfolg! Für mich waren das die Schweizer Frauen, mit denen ich in Thun kennengelernt habe sowie meine damaligen Mitarbeiterinnen in der Stadt Bern Verwaltung, als ich dort ein Praktikum gemacht habe. Ich sage immer: Mir war es auch schwer. Ich dachte: „Ich habe kein Netzwerk, nur einen dünnen Faden.“ Und ein paar Jahre später siehst du dann, wie alles wächst, wenn die richtigen Menschen da sind.

Wie misst man Erfolg, wenn es um Menschen geht?

— Was ist für dich ein Ergebnis?


Aisa:
Manchmal ist es etwas Physisches: Bildschirme, Stimmen, Zahlen. Aber oft ist es Interesse. Wenn Menschen weitermachen wollen. Wenn sie bleiben, um zu sprechen. Nicht immer zeigen Zahlen die Realität. Manchmal genügt eine einzige Person, die sagt: „Lass uns weitermachen.“

Erfolgsgeschichten: Museum, Stadt und… Anerkennung

— Worauf bist du in deinem beruflichen Leben besonders stolz?


Aisa:
Erstens: das Burgdorf-Projekt, ohne Frage. Zweitens: meine Wahl in diesem Jahr für die Integrationskommission der Stadt Thun. Diese Wahl sagt: „Wir sehen deine Arbeit.“ Das ist nicht nur ein Amt – es ist Vertrauen und Anerkennung.

— Und was kommt als Nächstes?


Aisa:
Wir überarbeiten den Stadtrundgang – neue Initiativen kommen dazu. Es gibt Ideen für Museumsfortsetzungen. Und natürlich Pläne in Thun. Und global? Soziale Kontakte pflegen. Nicht nur neue Verbindungen schaffen, sondern bestehende Netzwerke verweben. Denn viele Gruppen arbeiten getrennt, obwohl sie ähnliche Ziele haben. Gemeinsam können wir mehr. Das ist mein Ziel.

Nachwort: Eine Person, ein Schritt – mehr Möglichkeiten

Integration ist nicht nur Strukturen, Gesetze und Programme. Es geht um Mut, den eigenen Erfahrungsschatz als wertvoll anzuerkennen. Um Menschen, die Türen öffnen. Um jene, die leise, aber konsequent unterstützen. Und um Menschen wie Aisa Martinez, die diese Arbeit sichtbar machen – Schritt für Schritt, Projekt für Projekt, Stimme für Stimme. Denn niemand versteht Migrant*innen besser als ein Migrant – und niemand kann ihnen so gut helfen.

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