Anastasiia Yushchenko, Mutter von zwei Mädchen, Veronika und Victoria, kam in den ersten Kriegstagen in die Schweiz. Gleich nach ihrer Ankunft gelang es Anastasiia, eine Arbeit zu finden. Ihre jüngere Tochter ging in den Kindergarten und ihre ältere Tochter in die Schule. «Das Schwierigste war die fremde Sprache», erinnert sich Anastasiia. «Aber es hat geholfen, dass Veronika eine ukrainische Klassenkameradin und Victoria einen Jungen aus der Ukraine in ihrer Gruppe hatte. So hatten sie von Anfang an Freunde, mit denen sie sich gut verstanden, und sie lernten gleichzeitig gemeinsam Deutsch.» In der Schule wurde Veronika von Lehrern und digitalen Hilfsmitteln unterstützt. Bald passte sich das Mädchen an und begann, nicht nur Deutsch, sondern auch den Schweizer Dialekt zu sprechen.
Während die Mädchen die Schweizer Schule besuchten, verteidigte ihr Vater sein Heimatland. Vor einem Jahr wurde er bei einem Kampfeinsatz getötet. Auf Drängen ihrer Töchter kehrte Anastasiia in die Ukraine zurück. «Ich habe lange gebraucht, um den Mädchen die Gefahren einer Rückkehr zu erklären und sie vor Luftangriffen zu warnen. Trotz allem kehrten wir zurück, und jetzt erleben wir die Schwierigkeiten der Wiedereingliederung», sagt Anastasiia.
Abgesehen von der Unsicherheit sah sich die Familie nach ihrer Rückkehr sofort mit psychosozialen Problemen konfrontiert, vor allem im Zusammenhang mit der Schulbildung der Mädchen. «Als wir in Kiew ankamen, ging Veronika sofort zur Schule. Die Lehrer waren jedoch nicht darauf vorbereitet, mit einem Kind umzugehen, das das Land, den Lehrplan und die Sprache gewechselt hatte (obwohl sie zu Hause mit ihren Töchtern ukrainisch sprach) und obendrein durch den Tod ihres Vaters ein psychologisches Trauma erlitt», erklärt Anastasiia.
Die Situation, die einige Monate später eintrat, zwang Anastasiia, die in diesem Sommer aus der Schweiz in die Ukraine zurückkehrte, zu einer schwierigen Entscheidung – dem Wechsel von Veronikas Schule. «Am Ende des Schuljahres schrieben die Kinder viele Prüfungen. Ich musste meiner Tochter helfen, und sie wurde vor der ganzen Klasse gedemütigt», erinnert sich die Mutter. Nach einem neuen psychischen Trauma weigerte sich Veronika, zur Schule zu gehen. In der Schweizer Schule erfuhr sie Verständnis und Unterstützung, was ihr zum Erfolg verhalf. Die Erkenntnis, dass sie aufgrund der unterschiedlichen Bildungssysteme "hinter" ihren Mitschülern zurückblieb, führte zu einer Verschlechterung ihres Zustands.
Es kostete viel Mühe, eine Schule zu finden, in der Veronika akzeptiert wurde und in der die Lehrer der Meinung waren, dass das psychologische Wohlbefinden eines Kindes an erster Stelle steht. Dort fühlte sich das Mädchen relativ sicher und besser integriert. Zurzeit besucht sie das fortgeschrittene ukrainische Programm "Intellekt der Ukraine".
In der Schweiz lernte Veronika Deutsch, und nach ihrer Rückkehr musste sie das Schreiben und Lesen in kyrillischer Schrift von Grund auf lernen. Anastasiia sagt: «Der Unterschied in der Einstellung war für das Kind noch schwieriger zu bewältigen. In der Schweiz ist die Erziehung auf das Kind ausgerichtet, auf kreative Aktivitäten, Sport und Fähigkeiten. In der Ukraine hingegen stehen Wissen, Auswendiglernen und Fächer wie Mathematik, Naturwissenschaften und die ukrainische Sprache an erster Stelle.»
Anastasiia hat darüber nachgedacht, was sie hätte besser machen können, um ihre Kinder zu reintegrieren und die Rückkehr weniger schmerzhaft zu gestalten. Sie rät ukrainischen Flüchtlingseltern mit Schulkindern, die ukrainische Bildung nicht völlig aufzugeben. «Ich habe gesehen, dass es in der Schweiz nicht empfohlen wird, beide Schulprogramme zu besuchen. Ich verstehe, wie schwierig es sein kann, beides optimal zu kombinieren. Ein Kompromiss sind Online-Schulen, die ein optimiertes ukrainisches Programm anbieten. So können Kinder Fächer lernen, die in Schweizer Schulen nicht unterrichtet werden und die für die Wiedereingliederung entscheidend sind. Auf diese Weise werden die Kinder das kyrillische Alphabet nicht vergessen und bleiben mit der Ukraine verbunden."
Kommentar von Svitlana Manzer, Psychotherapeutin, Koordinatorin für Bildungs- und Integrationsprojekte beim Verein USB Ukraine Schweiz Bern:
«Das ukrainische Bildungssystem unterscheidet sich in vielenPunkten vom schweizerischen, unter anderem bei den Inhalten und den Lehrmethoden. Die geforderten Fähigkeiten und Leistungen in einer Schweizer Schule unterscheiden sich grundlegend von denen in einer ukrainischen Schule. Ukrainische Mütter von Kindern, die in Schweizer Grundschulen gehen, waren oft erstaunt, wenn ihre Kinder auf die Frage "Was habt ihr heute in der Schule gemacht?" antworteten: "Wir haben nur gespielt." In einer Schweizer Schule erwerben die Kinder, ohne es zu merken, durch Spiel und Spaß neues Wissen, entwickeln Fähigkeiten und grundlegende Lebenskompetenzen. In der Ukraine ist der Erwerb von Wissen nach wie vor eine der Hauptmotivationen für den Schulbesuch.»
Da viele Flüchtlinge Russisch sprechen, fehlt es ihren Kindern außerdem an ukrainischen Sprachkenntnissen. Nur Filme zu sehen oder Ukrainisch zu hören, reicht nicht, denn Sprachkenntnisse entwickeln sich nur, wenn sie systematisch geübt werden. Die derzeit weit verbreitete "individualisierte Form des Unterrichts", die von vielen ukrainischen Schulen praktiziert wird, bei der Eltern zweimal im Jahr Tests für ihre Kinder schreiben, funktioniert nicht.
Um den Flüchtlingskindern im Kanton Bern eine ukrainische Ausbildung zu ermöglichen und die Risiken bei der Reintegration zu minimieren, bietet der Verein Ukraine Schweiz Bern, USB, seit 2023 die Optima Schule an. Im Rahmen des Programms "Ukrainer in der Welt" ermöglicht diese Schule Flüchtlingskindern, sich auf das Basispaket "Ukrainisch" zu konzentrieren.
Dies ist beschränkt auf die Fächer ukrainische Sprache und Literatur, Geschichte und zwei Fächer aus dem ukrainischen Lehrplan ihrer Wahl. Auf diese Weise bleiben die Kinder in das ukrainische System integriert und werden nicht mit einem parallelen Schulprogramm überwältigt. Seit 2024 zeigen sich vermehrt auch Privatschulen in der Ukraine an diesem Angebot interessiert.
Dies erlaubt ihnen, ihre Unterrichts- und Managementstandards zu verbessern, um die zurückkehrenden Flüchtlingskinder besser aufnehmen zu können. USB berät sie über Schweizer Standards. Nur wenn das re-integrierte Kind von einem Lehrer mit hoher pädagogischer Kompetenz, freundlicher Einstellung und offener Kommunikationsatmosphäre engagiert wird, können Stress und Missverständnisse vermieden werden.
Olena Krylova Müller, Leiterin und Gründerin von USB, die als Beraterin für die ukrainische Regierung tätig war, kommentiert:
«Wir sehen eine wachsende Kluft zwischen den Ukrainern, die während des Krieges im Land geblieben sind, und denen, die es verlassen haben. Die Politik der Wiedereingliederung wird jetzt in der Ukraine aktiv diskutiert. Dies ist ein sehr wichtiges Thema für den Aufbau des sozialen Zusammenhalts im Allgemeinen und ein besonderes Anliegen des Bildungs- und des Jugendministeriums sowie des eigens eingerichteten Ministeriums für nationale Einheit der Ukraine.» Ministerium für Nationale Einheit der Ukraine“.