Jeder kann sich an einem neuen Ort verlieren. Besonders, wenn alles Vertraute der Vergangenheit angehört. Maria Baldina aus Charkiw hat diesen Weg beschritten – von der Verwirrung zum Selbstvertrauen. Sie fand Halt in ihrem neuen Land, gewann ihr Selbstvertrauen zurück und baut sich allmählich eine neue Realität auf – Schritt für Schritt, mit einer inneren Stimme, die sie endlich wieder hörte.
Verbrannte Wurzeln
„Ich bin vor über drei Jahren aus Charkiw in die Schweiz gekommen. Ich hatte ein Unternehmen – wir haben Designerkarten mit Hintergrundbeleuchtung hergestellt. Es war Liebe mit einem technischen Aspekt: Verkauf, Kunden, Marketing. Und auch – Freiheit“, beginnt Maria ihre Geschichte.
Die Schweiz begegnete ihr nicht nur ohne Werbung, Karten und Kunden, sondern auch ohne Boden unter den Füßen. „Meine Motivation war weg. Es war leer. Ich verstand nicht, warum ich hier war“, fügt Maria hinzu. Doch dann entschied die Frau: Alles muss Schritt für Schritt beginnen.
Apathie ist nicht Faulheit. Es ist Apathie.
Maria gibt nicht gleich nach dem ersten Sturz auf. Doch wenn die Welt untergeht, helfen weder ein Lebenslauf noch Erinnerungen an erfolgreiche Projekte. Maria studierte Deutsch, denn zu der völligen Unsicherheit kamen noch die Sprachbarriere und ein kompliziertes Privatleben hinzu. Dann beschloss sie, sich an einen professionellen Coach zu wenden. „Ich ging als Klientin. Nach der ersten Sitzung fühlte ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder lebendig. Und ich dachte: Das will ich auch! Ich möchte, dass sich die Leute nach einem Gespräch mit mir daran erinnern, wer sie sind.“
Maria absolvierte eine komplette Online-Schulung. Gleichzeitig gewann sie mit ihrem neuen Beruf an Selbstvertrauen. Aber nicht an Arbeit. „Die Arbeit als Coach in der Schweiz ermöglichte es mir nicht, finanziell unabhängig von Sozialleistungen zu werden. Mir wurde klar: Ich muss einen anderen Einstieg suchen. Und ich begann, nach Arbeit zu suchen.“
100 Bewerbungen – und kein einziges „Ja“
Maria bezeichnet die Jobsuche in der Schweiz als „neue Realität“. Sie hat überall gesucht: Sie hat Lebensläufe verschickt, Organisationen, Geschäfte und Gastronomiebetriebe persönlich besucht.
Ich habe rund 100 Bewerbungen verschickt. Keine Antwort. Sogar die Genossenschaft hat Nein gesagt. Ich dachte: Wenn sogar die Genossenschaft mich ablehnt, wer bin ich dann überhaupt?
Die Absage des Supermarkts empörte Maria so sehr, dass sie nicht schweigen konnte. Sie suchte die E-Mail-Adresse der Personalleiterin, schrieb ihr direkt, vereinbarte ein persönliches Treffen und einen Probetag. Und als ihr dann eine Stelle angeboten wurde, lehnte Maria ab.
„Ich stand mit Gläsern da und arrangierte Produkte, und mir wurde klar: Ich kann mehr. Ich möchte zurück ins Marketing“, fügt Maria hinzu.
Die Stimme der Vernunft – und der Sprache
Für Maria hat das Deutschlernen oberste Priorität. „Wir sind alle so intelligent, wenn wir in unserer Muttersprache kommunizieren. Ich wollte auch auf Deutsch intelligent klingen. Damit meine Intelligenz gehört wird und nicht nur das höfliche „Grüezi“. Deshalb verbessert Maria weiterhin ihre Sprachkenntnisse. Und sie arbeitet nebenbei in ihrem Fachgebiet. Maria hat nicht nur einen Job als Marketingfachfrau gefunden, sondern gleich zwei!
Einer davon ist im Bereich der Spitzentechnologien angesiedelt: in einem Unternehmen, das Helikopter entwickelt, leichte Fluggeräte für komplexe technische Einsätze.
Eine andere ist Marketingspezialistin bei einem Schweizer Schmuckunternehmen. Marias Aufgabe ist es, den Umsatz des Unternehmens über soziale Medien zu steigern. Das ist herausfordernd und stressig, aber gleichzeitig äußerst lohnend – sie ist wieder voll dabei!
Die Kraft, sich neu zu formieren
Durch das Coaching lernte sie, sich selbst wieder zusammenzusetzen. Wie ein Konstrukteur. Aus verstreuten Teilen. Maria erinnerte sich daran, wer sie ist, was sie kann und was sie will. Das ist nicht nur Unterstützung. Das ist echte Unterstützung. Marias Plan sieht vor, bis Ende des Jahres die Deutschprüfung zu bestehen und dank der erhöhten Arbeitsbelastung ihre finanziellen Ausgaben vollständig zu decken. Gleichzeitig versteht Maria dank der Arbeit des Coaches den Unterschied zwischen denen, die durchstarten, und denen, die feststecken.
Der Glaube an sich selbst ist keine Abstraktion. Er hält einen zurück. Wenn man keinen Ausweg sieht, beginnt man, sein Selbstwertgefühl Stück für Stück zu „stehlen“. Jemand sagte: „Deine Erfahrungen hier sind nicht wichtig“ – und der Tropfen fiel. Jemand: „Du kannst kein Deutsch“ – noch einer. Und das war’s. Man sieht sich selbst nicht mehr. Die Umgebung ist sehr wichtig.
Von Leuten, die sagten: „In der Schweiz wirst du keinen Erfolg haben“, lernte ich Leute kennen, die sagten: „Schau, es ist möglich“, fügt Maria hinzu.
Manchmal muss man einen Menschen einfach daran erinnern: Du hast noch Flügel – du musst sie nur ausbreiten. Schließlich beginnt Integration oft nicht mit einem Lebenslauf. Sondern mit dem Satz: „Ich kann das.“